BAYREUTH.
In diesen Tagen wird kontrovers darüber debattiert, wann die Kitas in Deutschland wieder geöffnet werden sollten. Prof. Dr. mult. Eckhard Nagel, Inhaber des Lehrstuhls für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften und Direktor des gleichnamigen Instituts an der Universität Bayreuth, kommt aufgrund aktueller Studien zu dem Ergebnis: „Für die Schließung von Kitas bis über die Sommerferien hinaus gibt es derzeit keine medizinisch-wissenschaftliche Begründung.” Im Konsens mit zahlreichen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen plädiert er für eine möglichst rasche Öffnung:
Als Ende Februar diesen Jahres erstmals Coronavirus-Erkrankungen in Deutschland auftraten, bei denen die Infektionswege nicht mehr eindeutig nachvollzogen werden konnten, war es eine der ersten sorgenvollen Fragen, welcher Personenkreis durch das neue Virus SARS-CoV-2 besonders gefährdet sei. Dabei richtete sich der Blick, insbesondere auf Menschen im hohen Lebensalter sowie auf Jugendliche und Kinder. Das Immunsystem von Kindern ist noch nicht hinreichend differenziert, um in jedem Fall auf ein bedrohliches Virus effektiv reagieren zu können. Daher lag am Beginn der Pandemie die Annahme nahe, Kinder seien besonders bedrohlichen Gesundheitsrisiken ausgesetzt. Sie hat in Deutschland wesentlich zu der Entscheidung beigetragen, Schulen und Kitas bis auf Weiteres zu schließen. Wissenschaftlich bestätigt hat sich diese Annahme allerdings bislang nicht. Weltweit sind derzeit rund 2,5 Millionen Menschen mit einer Virusinfektion diagnostiziert, aber Kinder haben daran nur einen geringen Anteil.
Gegen eine besonders hohe Gefährdung von Kindern durch SARS-CoV-2 sprechen beim heutigen Stand unter anderem folgende Erkenntnisse und Überlegungen:
Besonders wird – nicht zuletzt durch die o.g. Studie aus den Niederlanden – eine weitere Annahme infrage gestellt, die an der Entscheidung zur Schließung der Kitas wesentlich beteiligt war: nämlich die Vermutung, Kinder spielten eine große Rolle bei der Verbreitung des Virus. Bislang gibt es keine valide Untersuchung, die bestätigt, dass infizierte Kinder das Virus auf Erwachsene übertragen hätten. Nur für den umgekehrten Infektionsweg gibt es zahlreiche Indizien aus Europa sowie aus den USA und Asien: So lebte die Mehrheit der Kinder, bei denen das Virus SARS-CoV-2 diagnostiziert wurde, mit einer erwachsenen Person zusammen, die bereits zuvor Symptome gezeigt hatte.
Die seit Beginn der Pandemie gewonnenen Erkenntnisse machen es notwendig, die Schließung von Kitas zu überdenken und sie schrittweise, unter Beachtung aller nötigen Hygieneregeln, aufzuheben. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin weist darauf hin, dass sich die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie mit dem neuen Corona-Virus deutlich verschlechtert haben. Vor diesem Hintergrund sollte jetzt, wo immer es möglich ist, mit einer Öffnung der Kitas begonnen werden. Für die in einigen Bundesländern angekündigte Schließung von Kitas bis über die Sommerferien hinaus gibt es derzeit keine medizinisch-wissenschaftliche Begründung. Dabei bleibt selbstverständlich festzuhalten, dass Maßnahmen wie die Öffnung der Kitas mit strukturierten wissenschaftlichen Untersuchungen begleitet werden müssen.
Wie die Bundesregierung betont, geht es in allen diesen Fragen stets um die Abwägung zwischen Ermöglichung und Schutz: Schutz für Menschen mit einem hohen Gesundheitsrisiko und Ermöglichung der Förderung der Betroffenen, hier der Kinder. Mit Recht weist die Bundesfamilienministerin darauf hin, welche zentrale Bedeutung Kitas für die frühkindliche Entwicklung, für die Vorbereitung auf die Grundschule, für das gemeinsame Lernen und das Leben in einer Gemeinschaft haben – und welche wichtigen Zukunftsperspektiven sich daraus ableiten.